Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen –
unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend
tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt
nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf…
(Die Natur, Fragment, aus: dem «Tierfurter Journal» 1783)

Mikrokosmen

Zu dem Zeichenzyklus von Evelin Schertle

Schon Alexander von Humboldt (1769 – 1859) stellte fest, dass er zwar die chemische Zusammensetzung des Steins, nicht aber die Fäulnisschicht, die mit ihrem Humus die eigentliche Erlebniswelt ist, vermitteln konnte. Zu sehr herrscht die Ideologie, dass nur Fakten und Zahlen das Universum erklären können. Um die Natur jedoch zu erkennen, so Humboldt in einem Brief an Goethe, müsse sie gefühlt werden.[1] Fast zweihundert Jahre später äusserte sich der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 – 2007) in dieselbe Richtung, wenn er meint, dass man Natur nicht erkennen kann, wenn man sie nicht liebt.[2] Zu einer vergleichbaren Erkenntnis gelangte auch Evelin Schertle (*1966).  Wie, so fragt sie sich, spiegelt sich die Natur in unserem Bewusstsein? Welche Erscheinung ruft sie in unseren Sinnen hervor? Seit Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit beschäftigt sie sich mit diesen Phänomenen.

Sicher hat die Faszination für die Natur auch damit zu tun, dass die Künstlerin im Schwarzwald wohnt, einer ländlichen Gegend im Süden von Deutschland. Sie liebt es durch die Gegend zu streifen. Sie durchquert fruchtbare Felder oder taucht ein in den Wald, wo sie auf ihrem Gang verschiedene Lichtungen passiert und seltene Gräser am Wegrand oder Steine, die von Moosen und Flechten überzogen sind, entdeckt. Sie stösst auf Bereiche mit Bäumen, die wegen des Borkenkäfers gefällt werden mussten und nun totes Holz auf dem Boden vermodert. Sie sieht die auf dem Boden liegenden, verwelkten und zerbröselten Blätter und Samenkapseln, die Klein- und Kleinstlebewesen ein neues Tummelfeld bieten. In der Stille, die die Wanderin in der weitläufigen Landschaft umfängt, wo weder Auto- noch Zivilisationslärm die Wahrnehmung stören, öffnet sich der Blick auf seltene Biotope. Obwohl der Ausflug sie manchmal über die Kuppe eines Hügelzuges führt und in der Ferne die sonnenbeschienen Schneeberge der Alpen oder, je nach Perspektive, jene der französischen Vogesen zu sehen sind, ist es nicht das Panorama, das sie interessiert. Vielmehr sind es die Beobachtungen und Erlebnisse der Mikrowelt, die prägende Eindrücke in ihrem Bewusstsein hinterlassen und sie drängen, ihre Erfahrungen im Atelier zu formulieren. So sind bereits mehrere aus Naturbeobachtungen hergeleitete Zyklen entstanden wie Samen und Organismen oder rote Spuren. In Metamorphosen fokussierte sie auf Veränderungen.In Reflex des Pfauenauges, Melodie der Arabeske oder in Capriccio rücken die Natur zugunsten der Abstraktion in den Hintergrund. In ihrer von Januar bis März 2022 entstandenen 22-teiligen Zeichenserie Mikrokosmen, taucht sie nun ein in den Bereich der kleinen und kleinsten Dimensionen und erschliesst sich ihre Eingebungen mit Kohle und Rötel.

Dabei geht es der Künstlerin nicht um das blosse Abbilden des Gesehenen. Die Welt des Mikrokosmos ist auch gar nicht von blossem Auge zu sehen. Es braucht ein Vergrösserungsgerät, um das Geflecht der mineralischen Bestandteile, Skelette oder Relikte von Mikroorganismen überhaupt erfassen zu können. Evelin Schertles Darstellungen sind jedoch auch keine akribischen Ausformungen von Bodenstrukturen, seltsamen pflanzlichen sowie tierischen Organismen, wie sie etwa in den naturwissenschaftlichen Lehrbuchzeichnungen anzutreffen sind. Eben so wenig bezieht sie sich auf die von der Wissenschaft entwickelte graphische Strukturbildsprache, die es erlaubt, schnell und unkompliziert Erkenntnisse zu kommunizieren. Wie überhaupt der Blick durch das Mikroskop eine ganz andere Sicht auf die Natur zu Tage fördert. Evelin Schertle ist Künstlerin. Sie nimmt einen anderen Gesichtspunkt ein, denn sie sucht die Verbindung mit ihrer von Natureindrücken angereicherten Imagination. Nicht die äusseren Bilder sind ihr Massstab, sondern die mit persönlicher Sensibilität gesättigten Erfahrungen. Sie ergründet die Nachbilder, die sich im Anschluss an ihre Spaziergänge in ihrem Bewusstsein einstellen. Wie ein Seismograph folgt sie den inneren Impulsen, um ihre Visionen in der Form von abstrakten Gestaltungen zur Anschauung zu bringen. Indem sie sich voll auf ihre eigene Perspektive verlässt, erschafft sie eine Parallelwelt, eine neue Präsenz.

Um ihre Inspirationen auf dem Papier festzuhalten, hat sie ein mehrschichtiges Verfahren entwickelt. In einem ersten Schritt verteilt sie mit entspannter Hand Rötelstaub auf das am Boden liegende Zeichenblatt und schafft sich so eine Ausgangslage. Es entsteht ein erstes formloses Gefüge von abwechselnd verdichteten und lockeren Partien. Nach der Fixierung zeichnet sie mit fein gespitztem Rötel- oder mit Kohlestift filigrane Linien in den Farbstaub. Manche Striche sind lang und durchqueren weite Teile des pulverisierten Universums. Andere sind nur kurz, Schraffuren ähnlich. Wieder andere sind zart und struppig wie Staubfäden. Es bilden sich rhizomartige Verästelungen, die sich in alle Dimensionen erstrecken. Kratzspuren, die das Gebilde in eine bestimmte Richtung bewegen. Dazwischen holt sie die Umrisse bestimmter Strukturen hervor, so als wären es Zellen, kleine Löcher oder offene Poren. Meisterhaft setzt die Künstlerin den Rötelstift ein. Manchmal ist da nur ein Hauch von Farbe was den Eindruck erweckt, das aus dem Farbstaub entstandene Gewebe sei in Auflösung begriffen. An anderen Stellen setzt der kräftige Farbauftrag Akzente, wobei weniger der Eindruck von pulsierenden Zentren als vielmehr jener einer Verdichtung von Materie entsteht. Der unterschiedliche Einsatz des Farbmaterials bewirkt auch ein vielschichtiges Wechselspiel von räumlicher Tiefe, von Leerstellen und vernetzenden Ebenen. Ein anderes Werkzeug, mit dem die Künstlerin gerne arbeitet ist der Knetgummi. Mit dem Knetgummi trägt sie Farbe ab, zeichnet bewegte Verläufe oder Kringel aufs Blatt. Andere Abtragungen haben eher die Form von Dornen oder spitzen Stacheln. Für einen Teil des Werkzyklus verwendet die Künstlerin Kohle, die sie in vergleichbarer Weise einsetzt wie den Rötelstift. Obwohl das Schwarz der Kohle oft düstere Gedanken hervorruft, gelingt es der Künstlerin den Werkstoff so einzusetzen, dass die Strukturen Assoziationen an etwas Luftiges, Wolkenhaftes, bisweilen fellartig Flauschiges evozieren. Jede Komposition hat eine eigene Ausdruckskraft, beziehungsweise ein eigenes Wesen. Gemeinsam ist ihnen, dass jede Gestalt von viel Weissraum umgeben ist und in einem luftleeren Raum zu schweben scheint.

Es ist interessant die Arbeiten von Evelin Scherte mit den Bildern von Cy Twombly (1928 – 2011) zu vergleichen. Anders als die Künstlerin lebte der Amerikaner in Städten. Während Schertle über die Felder marschiert, wanderte Twombly durch die Metropolen. Er liebte es, die Viertel zu durchstreifen und ihre Eigenheiten und Stimmung zu erkunden. Cy Twomblys New Yorker Werke der frühen 1950er Jahren gleichen dynamische Aufzeichnungen. In den Hintergrund nuanciert gehaltener Weissräume kritzelte er im Stil des allover flüchtige Zeichen und Kringel, wobei sich das flirrende und vibrierende Liniengeschehen in den Tiefen der Farbschichten aufzulösen scheint. Seit 1957 lebte Twombly in Rom, wo er die alten Mauern mit den abgeblätterten Farben, den unzähligen Einritzungen und flüchtig hingekritzelten Zeichen entdeckte. Sie übten einen ganz speziellen Reiz auf den Künstler aus. Seine Malweise erfuhr 1961 eine Steigerung in der Expressivität. Die Farbe wird nun direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt. Kräftiges Rot taucht auf. Verdichtungen wirken wie Verletzungen. Die Poesie weicht einer fast groben, bisweilen aggressiven Geste. Der Vergleich der zwei unterschiedlichen künstlerischen Darstellungsweisen ist bemerkenswert: Während uns die Arbeiten von Cy Twombly die Magie und das Chaos der Grossstädte vor Augen führen, vermitteln Evelin Schertles Werke die Stille und Harmonie der Natur. Im Gegensatz zu Twomblys Malerei, die in ihrer Monumentalität und Rohheit die Härte der modernen Welt widerspiegeln, machen die filigranen Zeichnungen von Evelin Schertle die Essenz der Begegnung internalisierter Naturbeobachtungen explizit. So verschieden die beiden Œuvres auch sind, beiden gelingt es gleichermassen ihre Wahrnehmungen in einem Balanceakt von Schönheit und stimmiger Tiefe zum Ausdruck zu bringen und dies in einer Art, dass jeder Ansatz für sich die Empathie und die Energie der jeweiligen Lebensumstände wiedergibt.

Doch zurück zum Mikrokosmos, dem eigentlichen Thema von Evelin Schertles gleichnamigen Zyklus, der im Grunde davon erzählt, dass Natur auch ganz anders verstanden werden kann, als sie die mathematikbasierten Naturwissenschaften gerne darstellt. Natur, wie sie die Wissenschaften interpretiert, stützt sich auf experimentelle Erkenntnis. Diese sind nachvollziehbar und überprüfbar. Evelin Schertles zeichnerische Darbietungen repräsentieren nicht die Wirklichkeit der Naturwissenschaften, sondern sie sind der Ausdruck von Spiegelungen in der subjektiven Innerlichkeit eines Menschen. Ihre Darstellungen behaupten keine Deckungsgleichheit mit den auf ihren Spaziergängen angetroffenen Gegenständen oder der unter dem Mikroskop geschauten Proben. Vielmehr sind sie der Ausdruck der Übereinstimmung mit ihrem inneren, subjektiven Blick auf die Welt. Ihre Bilder präsentieren ihre Sicht auf eine Ordnung, die sich vor ihrem inneren Auge entfaltet.

Die Astrophysik zeigt die Unendlichkeit des Alls. Eine Ahnung dessen was diese Unermesslichkeit bedeuten könnte, vermittelten die betörend schönen Fotografien, die das James-Webb Teleskop seit Kurzem zur Erde sendet. Die zahllos flimmernden Sonnensysteme, die funkelnden Sterne oder die um sich kreisenden Haufen fluoreszierenden Sternenstaubs, bringen die Menschen immer wieder neu zum Staunen. Während der Makrokosmos die Unendlichkeit des Himmelsraumes zur Anschauung bringt, öffnet sich mit dem Mikrokosmos eine andere Unendlichkeit. Der Formenreichtum sowie die Unerschöpflichkeit dieser Dimension sind nicht minder beeindruckend. Dies zu erfahren, hat für Evelin Schertle eine spirituelle Komponente. Die Künstlerin versteht ihre Bilder denn auch als eine Hommage an die Schöpfung.[3]

Kathrin Frauenfelder
Kunsthistorikerin, Dr. phil.
Zürich, im März 2023


[1] Vgl. Evelin Schertle, «Es ist immer ein Kampf», sagt Künstlerin Evelin Schertle über den Anfang jedes Werkes, in: Südkurier, 22.12.2022.