Lydia Eder_Evelyn Schertle_Reflex des Pfauenauges 9.594 Zeichen (mit Leerzeichen)
Von der Erscheinung der Dinge: zwischen äußerer Form und innerer Wahrnehmung
Über das Verhältnis von Kunst und Natur im Schaffen von Evelyn Schertle am Beispiel des Zyklus Reflex des Pfauenauges
Faszination Pfauenauge: Überlegungen im kulturhistorischen Kontext
In den verschiedensten Spektralfarben schillern die sich der Veränderung des natürlichen Lichts anpassenden Reflexe des ornamental anmutenden Auges an der Spitze der Pfauenfeder. Deren irisierende Farben faszinieren und sie stimulieren die optische Wahrnehmung des Menschen. Schon in der Antike ist der Pfau dank seines auffallend bunten wie prachtvoll dekorativen Federkleides ein Sinnbild für Schönheit und Eleganz. So tritt er beispielsweise in der griechischen Mythologie als tierischer Begleiter von Hera, der Gattin des Göttervaters Zeus, auf. Der Legende nach soll Hera, von Eifersucht getrieben, die hundert Augen des Riesen Argos, den sie beauftragt, den ihr untreu gewordenen Ehemann zu bewachen, nach dessen gewaltvollen Tod auf die Federn des Pfaus gesetzt haben. Der Pfau wird an Heras Seite zum Inbegriff von Stärke, aber in Verbindung mit seiner außergewöhnlichen Schönheit auch von Eitelkeit. In der römischen Mythologie wird Heras Pendant Juno ebenfalls in Begleitung eines Pfaus dargestellt. Im frühen Christentum verkörpert der Vogel die Hoffnung auf die Auferstehung und ein ewiges Leben nach dem Tod. Doch nicht nur im Kontext der europäisch-westlichen Mythologie sowie der Religion wird das prachtvoll und bunt gefiederte Tier zum Symbol. Im alten persischen Königreich und am Hof der Moguln in Indien ist der Pfau sogar namensgebend für den Herrscherthron, der mit reicher Edelsteinverzierung an die leuchtenden Reflexe der Pfauenfeder erinnert. Doch worin liegt die Anziehungskraft des Pfauenauges begründet? Weshalb übt es gerade auf Künstlerinnen und Künstler einen besonderen Reiz aus? Die Antwort liegt wohl in dem außergewöhnlichen Farbenspiel der schillernden Pfauenfeder, für das nicht Pigmente, sondern mikroskopisch kleine, an der Oberfläche der Feder befindliche kristallartige Kammern, die auf Lichtreflexe reagieren, verantwortlich sind. Es ist ein optischer Vorgang, der das Auge stimuliert und sowohl naturwissenschaftlich erklärbar als auch durch die menschliche Sinneswahrnehmung erfahrbar ist, für den Verstand aber kaum greifbar scheint. Übrig bleibt für den Betrachtenden nur das beeindruckende Schauspiel einer schillernden Farbenvielfalt – eine Schönheit, die Künstlerinnen und Künstler seit jeher begeistert.
Amorphe Figuren und zarte Linien: Zu Evelyn Schertles Zyklus Reflex des Pfauenauges
Dieser bereits kulturhistorisch angelegten Faszination rund um das Pfauenauge erliegt auch Evelyn Schertle. Sie tauft eine 2022 entstandene 65-teilige Serie von Handzeichnungen auf Papier Reflex des Pfauenauges und versucht in diesem Werkzyklus mit zartem Strich den Zauber des Phänomens Pfauenauge einzufangen. Jedes einzelne Blatt der Serie gestaltet Schertle in einem eigens definierten Farbkosmos: Blau, Grün, Rot oder Violett dominieren abwechselnd, variieren in kompositorischer Gewichtung und tonaler Abstufung und werden in unterschiedlichsten Kombinationen zusammengestellt. Zarte Linien verdichten sich von der Bildmitte ausgehend zu abstrakten Strichkompositionen. Der frei und unbearbeitet belassene weiße Untergrund des Papiers bildet einen direkten und unmittelbaren Kontrast zur intensiven Farbigkeit des linearen Gefüges. Durch die weiße Fläche gewinnt die Farbe zusätzlich an Ausdruckskraft. Das Auge des Betrachtenden meint in den fast tanzenden, wellenartigen Bewegungen der Striche scheinbar von Raum und Zeit losgelöste, in einem Vakuum schwebende amorphe Figuren zu erkennen. Mit der Leichtigkeit von zarten Federn fließen die Linien, die die durch den künstlerischen Impuls geleiteten Handbewegungen der Künstlerin nachzeichnen, in eine harmonische Gesamtkomposition zusammen.
Unter die Lupe genommen: Mikrobiologische Betrachtungen in Analogie zu Schertles Handzeichnungen
In der Abfolge der einzelnen Blätter wird der Bezug zum titelgebenden Reflex des Pfauenauges besonders deutlich: Schertle lotet in jedem einzelnen Blatt die Diversität des Spektrums eines Farbtones aus, ihre Zeichnungen spiegeln den aufgrund wandelnder Lichtverhältnisse sich stets verändernden optischen Reflex des Pfauenauges wider, der in einem die gesamte Bandbreite des Farbprismas abdeckenden koloristischen Variantenreichtum leuchtend schillert. Mikroskopisch genau betrachtet setzt sich der ornamentale Teil an der obersten Spitze der Pfauenfeder aus vielen feinen Einzelhärchen zusammen, die Schertle in ihren Zeichnungen durch ihre grazile Strichführung auffängt und die wiederum einer Verästelung in unterschiedlichste, in sich geschlossene Farbeinheiten folgen. Analog dem physikalischen Prinzip der Brechung von Licht leuchten sie in allen Farben des Regenbogens. Diesen naturwissenschaftlichen Aspekt übersetzt Schertle in ihrer Zeichnungsserie virtuos in ihre eigene künstlerische Sprache.
Zugleich suggeriert der Titel der Serie noch eine weitere Möglichkeit naturwissenschaftlicher Assoziation: Der Begriff Pfauenauge stellt nicht nur einen Bezug zur Vogelart, sondern auch zu einer ganz anderen Tierart her, der bekannten Schmetterlingsgattung mit ebenjenem Namen. Bei dieser wird grundsätzlich zwischen Tag- und Nachtpfauenauge mit jeweils einzelnen Unterarten unterschieden. In erster Linie ist das Pfauenauge jedoch ein der Familie der Nymphalidae, der Edelfalter, zugerechneter, in Mitteleuropa und Teilen Asiens verbreiteter Schmetterling. Dieser erinnert mit seinen leuchtend rot gefärbten und von vier bunten, dem Auge der Pfauenfeder ähnelnden Punkten gezierten Flügeln an die Farbenwelt der Handzeichnungen Schertles. Unter dem Mikroskop betrachtet lösen sich die Flügel des Schmetterlings – vergleichbar mit der Betrachtung des in diverse Einzelelemente aufgespalteten Auges der Pfauenfeder – in viele kleine, in bunten Farben schillernde Schuppen auf. Schertles Verbundenheit mit ebensolchen Erscheinungsformen der Natur materialisiert sich in ihren Zeichnungen anhand einer sehr persönlich gefärbten künstlerischen Form.
Zwischen Außen und Innen: Ein naturphilosophischer Ansatz
Schertle fokussiert bei der Arbeit am Pfauenauge-Zyklus auf den ihr Schaffen immer wieder durchziehenden starken Konnex zur Natur und ihren äußeren Erscheinungsformen sowie auf ein naturwissenschaftlich wie -philosophisch begründetes Interesse an den kleinsten mikrobiologischen Strukturen, die die unterschiedlichsten Lebensformen im Innersten zusammenhalten. Schon seit ihren Anfängen als Künstlerin war Schertle darauf bedacht, ihre Verbindung zur Natur nicht nur in ihre Kunst einfließen zu lassen, sondern sie zu einer treibenden Kraft ihres kreativen Schöpfens zu machen. Allem voran gelingt ihr dies in ihren das intuitive künstlerische Moment besonders stark betonenden Handzeichnungen, die durch die zutiefst persönliche Wahrnehmung beziehungsweise das subjektive Empfindungsvermögen der Künstlerin geprägt und bestimmt sind. Schertle bringt das folgendermaßen auf den Punkt: „Die künstlerische Intention meines kompletten Werkes gründet größtenteils auf emotionaler, sensueller Befindlichkeit meiner Wahrnehmung und der starken Empfindung und Ergriffenheit für die Gefühlsinhalte der Natur, mit der wir in Verbindung stehen.“ Für Schertle bildet die Grundidee den Ausgangspunkt ihrer Arbeit, die sich durch den Akt des Zeichnens oder Malens verändert, entwickelt und aus der auf ganz natürliche Weise, mehr durch künstlerischen Impuls als durch Zufall, Neues erwächst. Im Sinne Platons geht es nicht um die Nachahmung der scheinbar äußeren Erscheinungsformen der Natur, nicht um die Mimesis, sondern vielmehr um die Wiedergabe der Idee, die Darstellung dessen, was uns a priori bereits bekannt ist. Dieser Ansatz lässt sich auch auf Schertles Pfauenauge-Zyklus umlegen. Es geht nicht um Naturnachahmung im herkömmlichen Sinn, sondern um den Ausdruck der subjektiven Wahrnehmung der Künstlerin, um den Ausdruck eines Gedankens, der sich ausgehend von einer Idee zu etwas Eigenem, subjektiv Empfundenem weiterentwickelt. So sagt Schertle selbst: „Meine Arbeiten sind ein Zusammenfließen meiner Wahrnehmungen, etwas Mondiales.“ Das Interesse an einem naturwissenschaftlichen Aspekt, an der äußeren Erscheinung der Dinge, legt die Basis für die künstlerisch frei interpretierten Umsetzungen eines Themas, die von der Auseinandersetzung der Künstlerin mit ihren innersten, intuitiven Eindrücken getragen sind.
Auch die Pfauenauge-Zeichnungen basieren auf dieser wesentlichen Säule der Kunst Schertles. Die Grundstruktur der Komposition der Zeichnungen lässt an den Aufbau einer aus vielen kleinen, feinen Einzelelementen zusammengesetzten Feder denken. Die grazile Linienführung spiegelt die Eleganz und Feinheit dieser zarten Federn wider, aus denen sich das große Gesamtbild ergibt. Die Intensität der Farben, die Schertle in ihren Handzeichnungen einsetzt, ruft die leuchtend-schillernde Erscheinung des Pfauenauges in Erinnerung. Ausgehend von einer Grundstruktur – einer Idee – entfaltet sich auf dem Blatt also auch bei den Arbeiten des Pfauenauge-Zyklus ein abstraktes Liniengebilde, das eine vom ersten Ausgangspunkt unabhängige Eigendynamik entwickelt. In diesem Zusammenhang geht es Schertle in ihrer Kunst auch darum, die unmittelbare und ursprüngliche Verbindung von Mensch und Natur zu zeigen. „Nach meinem Dafürhalten sind Mensch und Natur eine Synthese“, so die Künstlerin. In dieser Synthese liegt auch die Wurzel der Serie Reflex des Pfauenauges, die Schertles virtuoses Vermögen, eine Symbiose von menschlicher Empfindung und äußerer Erscheinungsform der Natur mit einzigartiger künstlerischer Ausdruckskraft auf das Papier zu bringen, mustergültig repräsentiert.